Du betrachtest gerade „Man kann Sachen mit Gott machen, die kann man sich gar nicht vorstellen!“
Pfarrerin Sonja Schüller

Pfarrerin Sonja Schüller im Gespräch mit Anke Gasch

Bei einer Tasse Tee und einer Nussecke sitzen wir uns gegenüber: Sonja Schüller und ich. Aus Gottesdiensten kenne ich sie seit der Kindergartenzeit meines erstgeborenen Sohnes. Von diesen Gottesdiensten her weiß ich: Sie kann phänomenal singen, hat Humor, spielt Gitarre, predigt kurzweilig und verständlich. Bei unseren kurzen Treffen im Supermarkt hat sie außerdem erwähnt, dass sie gern in Irland urlaubt. Heute möchte ich mehr über sie erfahren. Während wir sprechen vibriert ihr Handy immer wieder. Sonja Schüller ist gefragt … Da frage ich mich und sie doch glatt:

Gibt es so was wie einen typischen Arbeitstag für Sie?

Nein! (lacht) Zwar gibt es regelmäßige „Wochentermine“, das macht vielleicht im Grundsatz einen Donnerstag zu einem typischen Donnerstag oder einen Dienstag zu einem typischen Dienstag. Diese Termine, das sind dienstliche Treffen oder Angebote, die wir in festen Abständen immer wieder machen. Aber im Pfarrberuf kommt immer was dazwischen. – Oder was anders. – Besonders, wenn man neben einer Kirche wohnt.

Können wir für „Es kommt was dazwischen oder anders“ ein Beispiel nennen?

Dramatische Beispiele sind ja immer schön … Also, da will ich beispielsweise zum Friedhof und dann steht da ein Obdachloser vor der Tür und braucht dringend Hilfe. Das kennen die Kolleginnen und Kollegen, die aus einer anderen Stadt kommen oder weit weg von den Kirchen wohnen, nicht so. Das ist dann wirklich Abwägungsstress, dem wir manchmal auch ausgesetzt sind. Selbstverständlich weiß ich, dass man Ähnliches in jedem Beruf erlebt. Dennoch bleibt es herausfordernd. Wir haben natürlich auch Absagen von Dingen, die wir geplant haben. Und es gelingen Vorbereitungszeiten, die ich mir so vorgenommen habe, nicht: Zwischen dem Schulgottesdienst und dem Hausbesuch könnte ich doch das und das erledigen, da ist ein bisschen Zeit, dann kommt aber die Inspiration nicht. Dann muss ich es entweder hintendran hängen oder es anders vorbereiten, indem ich das Thema wechsele. Es ist ein Tagesablauf, der ständig verändert wird: durch Klingeln an der Haustür, das Telefon und E-Mails, aber auch durch die eigene Kreativität, die mal so und mal so vital ist. Und es gibt für Menschen im Pastoralteam einfach viele kreative Dinge vorzubereiten. Auch wenn es manchmal so aussieht, als ob wir das aus dem Ärmel schütteln. Dann haben wir das vielleicht geschickt gestaltet, aber irgendwann ja auch mal so überlegt, und sind in der Lage, das nicht ablesen zu müssen. Vorbereitungszeiten sind schon sehr wichtig …

Wie viel Vorbereitungszeit haben Sie denn dafür, einen Gottesdienst oder eine Beerdigung zu gestalten?

Nach über 27 Jahren in der Gemeinde war es zu Anfang noch kein Thema, da war das immer ein großes Geheimnis: Wie kriegen das die Pfarrpersonen hin? Und ich bin eher dafür, das transparent zu halten und zu sagen – wie unsere Landeskirche: Es braucht acht Stunden Vorbereitungszeit für eine Beerdigung oder einen Gottesdienst. Das muss man mal so rechnen, die möchten ja auch auf ihren pfarramtlichen Schlüssel kommen: Wenn die Gemeinde so und so groß ist, wie viele Pfarrstellen braucht man dann? – Das ist ein gesamter Arbeitstag …

Zu wohnen und zu arbeiten – an der gleichen Stelle – bedeutet übrigens auch, dass man Erholungszeiten dann einbauen kann, wenn es anderen nicht gelingt. Etwa, weil man manchmal früher als andere mit der Arbeit anfängt oder weil man noch dann seelsorgerlich unterwegs ist, wenn andere längst Feierabend haben.

Das erfordert sicher ein hohes Maß an Selbstorganisation …

Ja, oft denke ich, wir müssen ähnliche Kompetenzen haben, wie Menschen, die selbstständig sind und ein Geschäft führen. Und wenn die Abrechnung nicht fertig wird bis 18 Uhr, dann müssen sie eben noch sitzen.

So ist es mit der Predigt dann auch, oder? Bis Sonntagmorgen muss die fertig sein.

Das Gute ist, dass es sich im Laufe der Zeit bessert. Dass man mit Gottesdienstvorbereitung jeglicher Art immer besser wird, weil man sich besser kennt. … Ach, und: Wenn ein Dienstag mal genau so ist, dass ich sagen könnte, das ist ein gewöhnlicher Dienstag gewesen, dann bin ich fast misstrauisch.

Was mich jetzt noch brennend interessiert: Warum sind Sie Pfarrerin geworden?

(Lacht auf) Ich habe die Frage einmal so gestellt bekommen: „Warum sind Sie eigentlich Pfarrerin geworden? Sie sehen doch gar nicht so schlecht aus …“ (Jetzt muss ich vor Überraschung lachen.) Die Fantasien, warum das jemand wird, die sind unendlich, das habe ich aus dieser und ähnlichen Situationen gelernt. Manche denken, das muss aus einer Not heraus passiert sein. Nein. Das war bei mir nicht aus der Not. Ich kam nur so ein bisschen ins Nachdenken, als ich kurz vor dem Abitur erfuhr, dass Biologie studieren nicht bedeutet, dass ich mit Tieren und Pflanzen zu tun haben werde, sondern mit Mathematik, Chemie und Physik. Und dass ich dann lieber Floristin oder Tierpflegerin werden sollte, wenn ich das lieber hätte mit den Pflanzen und Tieren. Da dachte ich: Das kannst du ja gar nicht studieren, was machst du denn jetzt? Und dann habe ich auf mein jugendliches Leben gesehen und bemerkt: Das, wovon ich am meisten verstehe, ist das innere Leben einer Kirchengemeinde. Denn ich bin in meiner Heimatgemeinde sehr umtriebig gewesen. Seit der Konfirmandenzeit. Ich habe erleben dürfen, dass man mich entdeckt, gefördert und gefordert hat. Meine Musikalität, meine Freude an der Sprache. Meine Mutter hatte mir Gitarrenunterricht spendiert, und die konnten mich überall gebrauchen. So kannte ich alles, was in und um Kirche passiert. Was zu dem Schluss führte: Was dein Pfarrer kann, das kannst du eigentlich auch. Ich hatte in dieser Gemeinde Heimatgefühl gefunden – und so eine wirklich große Grundsympathie für diesen Glauben und dieses Gottvertrauen, von dem da immer gesprochen wurde. Wenn man mich fragt „Sie und der Glaube, wie war das denn?“, dann sage ich immer: „Irgendwann hat der Glaube an mir gefallen gefunden und ich an ihm.“ Und das ist so geblieben, das hat sich bestätigt und auch bestärkt. Das möchte ich weitergeben.

(Grinst) Und ich dachte mir: „Bestimmt können auch hübsche Menschen Pfarrerin werden.“ (Die Pointe erwischt mich so, dass ich fast meinen Tee zurück in die Tasse spucken muss.)

Als Kind habe ich ja gedacht, so ein Pfarrer, ich kannte da nur Pfarrer, kommt ganz kurz vor Jesus und Gott …

Das gibt es heute noch in einigen Köpfen. Manche, die mich beim Einkaufen treffen, sind erst mal überrascht. Und dann kommt so was wie ein „Hach, ja klar, Sie müssen auch essen …“ Das ist wirklich ein Thema, was mir am Herzen liegt. Das Zusammenspiel von Amt und Person. Pfarrer, ab Mitte der Sechziger- beziehungsweise Siebzigerjahre, je nach Bundesland, dann auch Pfarrerinnen – vorher durften sie nur ersatzweise mal ein Pfarramt versehen, da sind sie im oder nach dem Krieg einfach eingesprungen und durften das Amt mit allen Rechten nur beibehalten, wenn sie nicht geheiratet hatten – wurden lange als Amts- und auch Respektspersonen gesehen. Ich bin zum Beispiel nach Hilden gekommen, als gerade sechs von sieben Pfarrstellen von Männern besetzt waren.

Wie spannend

Und ich war auch noch die Jüngste … Damals hat das Amt die Person getragen. Mittlerweile ist es schon länger so, dass die Person das Amt tragen muss. Das hat Vor- und Nachteile. Man ist nahbarer geworden. Aber man muss jeden Schritt mit der eigenen Persönlichkeit erwirken. Ich möchte die alten Zeiten für mich nicht zurückhaben. Aber es ist eine zusätzliche Aufgabe. Man muss seine Persönlichkeit, seine Stärken und Schwächen alle aufbieten, um ein akzeptables und attraktives pastorales Amt zu repräsentieren. Denn: Der Zugang zur Kirche, als Institution, fällt oder steht mit dem einzelnen, einmaligen Auftreten einer Pfarrperson. Und da hat eine mal einen schlechten Tag, hat einen Namen an einer wichtigen Stelle vertauscht oder hat ein altes Leiden nicht mehr im Sinn, das hat sich ein Gegenüber aber sehr gewünscht, dann die Pfarrperson nicht nur untendurch, sondern die Kirche insgesamt auch. Es steht immer alles auf dem Spiel.

Oh, da tragen Sie eine immense Verantwortung. Das war mir gar nicht so bewusst.

Die Herausforderung ist, Menschen, die die Kirche nicht so wirklich von innen kennen, zu überraschen: mit fröhlichen, inspirierenden Personen, mit sinnvollen und tragfähigen Antworten. Immer. Es liegen große Chancen darin, und ja, es ist auch eine große Verantwortung. Wir haben die Pfarrbezirke aufgehoben, arbeiten gemischtprofessionell, um unsere Gemeinde in eine sehr zukunftsfähige Form zu bringen: was die Versorgung angeht und das nach Neigung-Arbeiten. Und so können wir sagen: „Du bist doch besser mit der Generation oder in dem Thema, kannst du das übernehmen? Und ich kümmere mich um dieses Thema.“

Das klingt sehr sinnvoll. Stärkenbasiertes Arbeiten kenne ich auch aus der freien Wirtschaft.

Und es ist auch wirklich gut. Dennoch: Wir neigen historisch bedingt eher zu einem Gedanken wie: Wenn mich jemand anruft, muss ich sofort für ihn oder sie da sein. Wenn Gott immer und zu jeder Zeit für alle da ist, muss ich das auch.“ Nur geht das gar nicht. Es ist auch nicht sinnvoll, sonst würde man schnell krank. Die pastoralen Dienste, alle, die in der und für die Gemeinde arbeiten, sind nicht Gott selbst. Ich muss mir das manchmal vor Augen halten. Die Liebe geht doch weiter, auch wenn ich nicht sofort ans Telefon gehen kann. So wie jetzt. Ich rufe dann schnellstmöglich zurück.

Und das ist schön. Weil wir uns ganz aufeinander und unser Gespräch konzentrieren können.

Manchmal habe ich Menschen in meinem Arbeitszimmer, zum Seelsorgegespräch, und dann geht ja schon mal das Telefon. Auch wenn es stummgeschaltet ist, hört man es zumindest vibrieren. So richtig habe ich die Technik im Griff. Oder es klingelt an der Haustür. Und wer zuckt, ist mein Gegenüber, wenn diese Geräusche kommen, und hört auf zu reden. Ich allerdings nicht, werde aber dann oft gefragt: „Wollen Sie da nicht ran- oder hingehen? Könnte doch was Wichtiges sein.“ Ich antworte dann meist: „Soll ich Ihnen den Eindruck vermitteln, das, was Sie mir erzählen, ist nicht wichtig? Das möchte ich nicht.“

Ich erlebe es dann nur häufiger, vor allem abends in den Wintermonaten, wenn das Licht bei mir brennt, das Menschen an der Haustür klingeln und klingeln und klingeln. Nach dem Motto: Sie ist doch da, dann muss sie auch kommen.“ Irgendwann muss ich dann aufstehen. Das tut mir sehr leid für mein Gegenüber in dem Moment. Wenn ich mich mit einem Menschen beschäftige, soll da eigentlich kein Klingeln und auch sonst nichts dazwischenkommen.

Ich weiß ja jetzt: Sie mögen Tiere. Haben Sie auch ein Lieblingstier?

Ich bin mit Katzen und Pferden aufgewachsen, bin sehr tierlieb und auch erfahren. Aber … zum Pfarramt passt am besten eine Katze. Eine Freigängerkatze. Mit Katzenklappe. Und die ist vorhanden. Es war immer eine vorhanden, entweder aus dem Tierheim oder aus der Nachbarschaft übernommen. An Katzen gefallen mir die sehr souveränen, eigenständigen Wesenszüge. Die wollen einem ja nicht gefallen, die wollen es einfach nur schön haben. Und wenn der Mensch es auch schön hat, ist es denen recht. Aber mein Kater hat ein sehr einfühlsames Wesen, ich glaube, das haben alle Katzen. Sie stellen sich zur Verfügung, um Leiden zu lindern oder sich mitzufreuen – auf ihre Art. Für den Ruhestand könnte ich mir auch einen Hund vorstellen, nur im Moment könnte ich dem die regelmäßigen Gassigänge nicht ermöglichen.

Wo wir gerade beim Lindern von Leid waren: Haben Sie einen Tipp für alle Menschen, die momentan mit Gott hadern? Ich kann das an meinem konkreten Beispiel festmachen. Als mein Vater während seiner Krebserkrankung vor Schmerzen weinte, ein Mann, den ich mein Leben lang nicht habe weinen sehen, und als er dann sagte: „Was habe ich nur verbrochen, dass ich so leiden muss?“ Da hatte ich wirklich erst mal den Pappen auf von Gott. Ich habe mich so verlassen gefühlt. Ich habe gebetet und gebetet, und es half nichts. Das war der Moment, indem ich meinen Kinderglauben verloren habe. Und das war der Anfang einer echten Beziehungskrise zwischen mir und Gott.

Ich bin immer froh und dankbar, wenn Menschen sich trauen, zu mir zu kommen und zu sagen: „Ich habe ein Problem damit, dass ich so sauer auf Gott bin. Und wenn ich sauer sage, dann ist das sogar untertrieben.“ Die haben nämlich noch nicht losgelassen. Ich weiß, dass diese Enttäuschungen, wenn man Gott mal aufgrund von eigenen Lebensgeschichten oder aufgrund von denen anderer einmal überhaupt nicht mehr versteht, nicht weggehen. Auch wenn man aus der Kirche austritt, niemals wieder in einen Gottesdienst geht und das Beten aufgibt. Die Enttäuschung kommt immer wieder. Und ich freue mich über Menschen, die ihren Zorn auf Gott, ihr Unverständnis über ihn, auch ausdrücken und damit irgendwo hingehen und Hilfe suchen. Das ist, glaube ich, der einzige Weg, wie man weiterkommen kann, wenn man so aus seiner Gottesvorstellung herausgestoßen wird. Und das Schöne ist: Das hält Gott aus. Wer ihm das zumutet, der hat wenigstens noch ein Gegenüber. Und zwar eines, das sich jede Beschimpfung anhört, jedes Geschrei, jede Verletzung, wenn eine Menschenseele da einfach ihren Schmerz mit ausdrücken muss. Davon bin ich überzeugt. Ich erschließe das, weil an der Bibel so viel herumgeschliffen worden ist, aber so etwas wie Rachepsalmen, ist geblieben. Das hat alle Zeiten überstanden. Die können wir sonntags nicht so unvorbereitet miteinander lesen, aber die stehen da, damit Menschen die Kraft und die Wut von Verletzung irgendwo wiederfinden. Glaube ist nichts Liebes und Artiges, er ist eine große Kraft und alle Kräfte haben eine wilde Seite. Und im Nachhinein kann man manchmal erkennen, dass Glaube sich nicht auf der Blumenwiese entwickelt, sondern nur über Zweifel oder über Berührt-Werden von einer Seite, mit der man noch nichts zu tun hatte. Aber der Motor des Glaubens sind Zweifel. Ich kann jede und jeden verstehen, die oder der sagt: „Geht mir weg mit diesem Gott, der hat zugelassen, dass der und der aus meinem Leben genommen wurde.“ Kann ich nichts gegen sagen. Und niemand anders möge das wagen. Die Menschen haben ein Recht das so zu sehen. Aber ich freue mich über die, mit ihrem Zorn und ihrer Hilflosigkeit kommen und umgehen. Und alles Gott selbst vor die Füße legen. Und wie man das machen kann, dabei können wir helfen. Viele Menschen sagen, das kann man doch mit Gott nicht machen, den darf man doch nur liebe Sachen fragen. Aber man kann Sachen mit Gott machen, die kann man sich nicht vorstellen.

Und der Tipp ist dann, Hilfe anzunehmen?

Ja. Seelsorgetermine bekommt man viel schneller als Therapietermine. Und das Pastoralteam ist dafür ausgebildet – und fähig – ebenso wie unser Seelsorgedienst und unsere ehrenamtlich dort Angegliederten.

Um mit etwas Leichterem aus unserem Gespräch auszusteigen: Wie darf ich mir das Entstehen einer Predigt so vorstellen?

Manchmal mit viel Denken, Schreiben und Verwerfen bis lange in den Samstagabend. Das bedeutet hin und wieder, dass man die vom Kirchenjahr vorgeschlagenen Predigtexte einfach in Ruhe lässt. Man kann sich dadurch herausfordern lassen, aber ab und zu muss eine Wende sein – wie im Segeln: Wo ist der Wind? Segel rum … Damit man nicht ewig und drei Tage sitzt – für eine Predigt! So sorge ich dafür, dass das nicht ausufert. Wir arbeiten einfach viel … Manchmal geht es aber auch schneller, als die Landeskirche veranschlagt hat. Weil einen im Garten irgendwie, während die Biene vorbeigesummt ist, ein Gedanke erwischt hat. Dann renne ich ins Büro, schreibe den hin und habe so viel Freude daran, dass ich eine Predigt gar nicht ausschreiben muss, sondern weiß: Mit diesen und noch zwei anderen Gedanken kannst du morgen auf die Kanzel gehen. Das hat mit der Heiligen Geistkraft zu tun, die ich aus der Männer-WG aus dem Himmel so ein bisschen herausgelöst habe, und von der ich so begeistert bin.