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#4 Hirten und Engel
Diese Textstelle aus Lukas 2,8–11 kennen die meisten von uns: „Und es waren Hirten in jener Gegend auf freiem Feld und hielten in der Nacht Wache bei ihrer Herde. Und ein Engel des Herrn trat zu ihnen, und der Glanz des Herrn umleuchtete sie, und sie fürchteten sich sehr. Da sagte der Engel zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Denn seht, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird: Euch wurde heute der Retter geboren, der Gesalbte, der Herr, in der Stadt Davids.“
In den Krippenspielaufführungen sehen wir dann bibbernde Hirten, die sich nicht nur über die Kälte der Nacht beklagen, sondern sich auch Sorgen um die Ernährung ihrer Familien machen. Und dann kommt plötzlich ein Licht von irgendwoher, ein Engel erscheint und verkündet die frohe Botschaft über die Geburt des sehnsüchtig erwarteten Retters.
Ein starkes Symbol
Die Botschaft dahinter: Die Ärmsten der Armen erfahren zuerst von der Geburt des Retters. Denn das Kind Gottes wird ein König werden, der sich gerade für die Schwachen unserer Gesellschaft starkmacht. Ein starkes Symbol! Dieses allein würde schon ausreichen, um den bedeutenden Charakter Jesu darzustellen. Aber es steckt noch viel mehr dahinter.
Wenn wir uns heute die Geburtsgeschichte Jesu durchlesen, muss uns eines klar sein: Jede Figur hat eine symbolische Bedeutung. Keine Figur ist zufällig beschrieben, sondern bewusst eingesetzt worden, um eine bestimmte Aussage zu treffen. Damit wir diese verstehen, müssen wir wissen, welche Bedeutung die Figuren für die damalige Zeit hatten.
Wie wir Hirten und Engel heute sehen
Sehen wir heute Zeit ein Bild von einem Hirten, verbinden wir mit ihm die Vorstellung eines meist älteren Mannes, der zwar nicht reich, aber mit sich zufrieden ist. Der jedes seiner Schafe liebt und auf sie achtet. Er hütet seine Schäfchen in Einsamkeit und zeigt ihnen den Weg zu saftigen Wiesen und frischem Wasser. Nicht umsonst wird Gott als „guter Hirte“ bezeichnet.
Unter einem Engel stellen sich manche von uns eine Person im weißen Kleid mit Flügeln vor. Meist eingehüllt in ein helles, göttliches Licht und mit einer Harfe in der Hand. Andere haben vielleicht eher das Bild von einem kleinen „runden“ Kind vor Augen, inspiriert von diversen Wand- und Kirchenmalereien. Aber wie auch immer wir sie „vor uns“ sehen: Wir verbinden mit einem Engel, etwas Reines und Heiliges.
Wie man sich Engel etwa 70 Jahre nach Christus vorstellte
Wie aber war die Vorstellung von Engeln und Hirten circa 70 nach Christus?
Sie werden staunen.
Die sanften Engel, wie wir sie uns heute vorstellen, die uns mit göttlicher Kraft vor Gefahren schützen, wurden in der damaligen Zeit noch ganz anders dargestellt. Engel waren zwar die Boten Gottes, die das Wort des Herrn verkündeten – was öfter passierte, als man es sich heute vorstellen kann. Sie waren aber auch das Werkzeug seiner Herrlichkeit persönlich. Und genauso jähzornig wie der Herr im Alten Testament gezeigt wird, waren es auch seine Engel. Unsere sanften himmlischen Wesen von heute waren damals bekannt dafür, dass sie die Feinde Gottes durch Reißen, Brennen, Stechen, Schlagen und viele andere Dinge vernichten konnten. So menschliche Züge wie heute hatten sie auch nicht. Sie wurden eher als Mischwesen dargestellt, die die Eigenschaften gefährlicher Tiere besaßen. Ein Engel verkörperte die gesamte Macht Gottes. Oft reichte sein Erscheinen aus und der Feind Gottes ergriff die Flucht. Dieses Erscheinungsbild müssen wir im Hinterkopf haben, wenn wir uns die Hirtenszene vorstellen. Wen wundert es da, dass sich die Hirten zunächst erst einmal fürchteten.
Hirten, wie man sie 70 nach Christus sah
Und die Hirten von damals? Waren bei Weitem nicht so friedlich, wie wir sie uns heute so gerne vorstellen. Während wir in mancher moderneren Bibelübersetzung die Worte „sie schliefen des Nachts bei ihrer Herde“ finden, können wir in den Bibeln, die näher an der griechischen Übersetzung sind, lesen, dass sie „Wache“ hielten.
Und das heißt nicht, dass sie wach waren, sondern kampfbereit. Um eine Herde zu bewachen, musste man sehr geschickt mit der Waffe umgehen können. Gefahren lauerten die ganze Zeit.
Wegen ihrer Geschicklichkeit waren die Hirten sehr beliebte Kämpfer in Kriegszeiten. Sie galten als eine Art Spezialeinheit bei Kriegen.
Warum kamen die Engel zu den Hirten?
Warum ließen die Autoren*innen des Lukasevangeliums also diese Engel zu den Hirten kommen? Die Stadt Bethlehem war voll von Menschen. Und reich wird von denen wohl kaum jemand gewesen sein. Es kann also nicht nur um die Symbolik der Armen gehen, die von Gott gesehen werden.
Die Engel kamen zu den Hirten, „nur“ zu den Hirten. Wir dürfen also davon ausgehen, dass Gott seine Boten zu Kriegern geschickt hat, die das Kind Gottes beschützen sollten. Das Sondereinsatzkommando Gottes wurde zum Schutz des Kindes geschickt. Und die Hirten folgten diesem Befehl. Sie ließen ihre Herde zurück und kehren erst wieder, nachdem sie sicher sein konnten, dass Gottes Kind in Sicherheit war.
Verena Kipp