Nachruf auf Pfarrerin Nicole Hagemann

Liebe Gemeinde,

mit großem Bedauern möchte ich hiermit das Ableben meiner Schwester Nicole Hagemann bekannt geben.

10 Jahre lang durfte sie in unserer Gemeinde das Amt der Pfarrerin ausüben und ich kann Ihnen versichern, dass dies nicht nur ein Beruf war, sondern wirklich eine Berufung.

Nun bin ich als Schwester privilegiert gewesen, dass ich fast 40 Jahre lang Teil ihres Lebens sein durfte. Wer uns kennt, der weiß, dass wir viel mehr als nur Schwestern waren, und genau aus diesem Grund wollte ich es mir nicht nehmen lassen, Ihnen allen hier ein paar Worte über meine Schwester niederzuschreiben.

Schon in der Grundschule hatte meine Schwester einen unerschütterlichen Glauben, für den ich sie stets bewundert habe. Sie schrieb einen Aufsatz über ihren Berufswunsch und schon damals war für sie klar, dass sie einmal Gemeindepfarrerin werden wollte. Ein anderer Beruf kam für sie niemals in Frage und da sie sich stets mit unserer Heimatstadt tief verbunden fühlte, war es auch ihr innigster Wunsch, dieses ehrenvolle Amt in unserer – ihrer Gemeinde – auszuführen.

Ihr ganzes Leben zielte auf dieses Amt hin. In frühen Jahren spielten wir gemeinsam im Flötenkreis unseres damaligen Kirchenmusikers, der uns regelmäßig für die musikalische Begleitung in die Gottesdienste, aber vor allem in die Kindergottesdienste holte. Das reine Musizieren reichte meiner Schwester jedoch nicht aus. Schnell zeigte sich ihr Interesse und ihr Talent, die Gottesdienste nicht nur musikalisch zu begleiten, sondern auch aktiv daran mitzuwirken. Sie übernahm immer mehr Aufgaben und leitete später den Kindergottesdienst in kompletter Eigenverantwortung.

Doch nicht nur hier brachte sie sich ein. Sie war über viele Jahre eine begeisterte Jugendmitarbeiterin, begleitete diverse Freizeiten, besuchte unzählige Fortbildungen und war einfach immer in der Gemeinde da, wenn man sie brauchte. Pfarrer York-Peter Wolf bezeichnete sie einmal als „eines seiner Gemeindekinder“ und sie war stolz, nach ihrer Konfirmation ein vollwertiges Mitglied zu sein und selbstbestimmt aktiv an der Gemeindegestaltung mitwirken zu können.

Seelsorge – helfen –, für andere ein offenes Ohr haben, das war schon in ihrer Jugend ihre größte Stärke und so trat sie, geleitet durch ihren Ehemann Ulrich Hagemann ( geb. Woelki ) bei den Johannitern ein und verbrachte dort den restlichen Teil ihrer Freizeit. Bis zum Beginn ihrer Erkrankung wirkte sie dort aktiv mit und war schnell das Herz der Leitstelle hier in Hilden. Auch hier zeigte sich schnell, dass sie in der hinteren Reihe nicht glücklich werden würde. Sie bildete sich fort, übernahm immer mehr Verantwortung, leitete Kurse und bildete die Retter von Morgen aus, und das mit einer enormen Leidenschaft und Hingabe. Sie gründete den Schulrettungsdienst am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium sowie an der Theresienschule. Auch hier war sie stets über ihre Dienstpflichten hinaus für die Teilnehmer da. Sie hatte stets ein offenes Ohr für Probleme und Sorgen und hatte ein einzigartiges Talent, sich in die Menschen hineinzuversetzen und ihnen beizustehen.

Dadurch war der Weg zur Notfallseelsorge geebnet. Hier war sie in ihrem Element! Ich kann mich an unzählige Einsätze erinnern, bei denen sie weit über ihre Pflichten hinaus parat stand. Es war eben ihre Berufung, nicht nur ihr Beruf.

All diese Tätigkeiten führte sie auch während ihres Theologiestudiums fort. Hier bestätigte sich ihr Wunsch, ins Gemeindeleben einzutreten und nicht den wissenschaftlichen Teil der Theologie auszubauen. Sie gehört auf die Kanzel! Jeder der sie dort erlebt hat, hat das gewusst.

In ihrem Vikariat (Solingen Dorp) lebte sie förmlich auf, steckte die Gemeinde mit ihrer Freude für den Glauben an und am Ende wollte sie keiner so richtig gehen lassen. Aber ihr Herz gehörte nun mal Hilden.

Und so zitterten wir mit ihr mit. Denn eigentlich ist es nicht vorgesehen, dass man in der eigenen Stadt das Amt des Gemeindepfarrers antreten darf. Erst im 2. Wahlverfahren durfte sie sich bewerben und es gab nicht nur Fürsprecher! Aber dadurch ließ sie sich nicht beirren. Sie bekam die Stelle, wurde ordiniert und wurde Pfarrerin des Hildener Ostens! Vielleicht gerade, weil in diesem Stadtbezirk die eigene Kirche fehlte, vielleicht aber auch, weil sie schon immer an die Kraft einer Gemeinde geglaubt hat, jedenfalls hatte meine Schwester niemals das „Bezirksdenken“! Ihr großes Ziel, ihr Wunsch war es, dass wir uns alle als EINE Gemeinde betrachten. Hier war sie sicherlich auf einem guten Weg, und ich hätte es gerne miterlebt, wieviel sie hier noch verändert hätte. Sie hat sicherlich die richtigen Samenkörner gestreut und es ist nun an uns, diese Körner zu gießen und wachsen zu lassen.

Meine Schwester war für mich in erster Linie Pfarrerin! Sie hat diesen Beruf geliebt und gelebt, auch hinter verschlossenen Türen. Gleichzeitig war für sie die enge Verbundenheit mit der Familie neben ihrem Beruf immer das Wichtigste. Und so stand es für sie außer Frage, selbst eine Familie zu gründen, in der sie ihre Werte weitergeben konnte. Mit meinen beiden Nichten war ihre kleine Familie vollkommen! Zwischen beruflichem Engagement fand sie immer Zeit für ihre beiden Kinder, aber auch für ihre Nichte. Sie hat alle Kinder so angenommen, wie sie sind, ihre Interessen geteilt und gefördert, mit ihnen zusammen gelacht, gebastelt und gesungen. Natürlich war es nicht immer Sonnenschein in der Familie, in keiner Familie gibt es so etwas. Aber auch hier fungierte sie stets als gute Zuhörerin, als Vermittlerin, als Ratgeberin. Durch ihre ganz persönliche Art hat sie versucht, stets ein Vorbild für die Kinder zu sein. Sie durften sich frei entfalten, bekamen nie den christlichen Glauben aufgezwungen, sondern durften selbst entscheiden, ob sie diesen Weg gehen wollten oder nicht. Genau so sind wir auch in unserem eigenen evangelisch / katholischen Elternhaus aufgewachsen. Und so war es für sie eine unendliche Freude, als sie meiner Nichte bei ihrer Konfirmation im letzten Sommer den Rücken stärken durfte – ein Moment, der gerade für unsere Familie ein prägender Moment war, und der uns bestimmt noch in den dunkelsten Stunden Hoffnung geben wird.

Dunkle Stunden gab es in ihrem Leben leider auch! So teilte sie das Schicksal mit vielen Eltern, mehrere Fehlgeburten erlitten zu haben. Auch hier zeigte sich wieder ihr überzeugter Glaube, dass in allem etwas Positives zu sehen ist. Sie setzte sich dafür ein, dass auf dem Hildener Südfriedhof ein Platz für Sternenkinder errichtet wurde, da sie selbst so genau nachvollziehen konnte, wie wichtig ein Platz zum Trauern ist. Bis zum Beginn ihrer Erkrankung war dies stets eine Herzensangelegenheit meiner Schwester und es ist zu wünschen, dass auch hier der Samen, den sie gesät hat, weiter Wurzeln schlagen wird.

Trotz ihrer persönlichen Schicksalsschläge ist sie selbst in ihrem festen Glauben nicht ins Wanken geraten, selbst in den letzten Monaten nicht.

Wir haben weit vor ihrer Erkrankung viel über das Thema Tod – Sterben – Trauerbegleitung gesprochen. Für sie war es kein Sterben in Trauer, sondern ein zu Gott gehen. Beerdigen war irgendwie ihr „Ding“! Sie hatte eine besondere Begabung im Umgang mit Trauernden und das in Worte zu fassen, was andere fühlten. Das werden sicherlich alle bestätigen, die mit ihr in solchen Situationen zu tun hatten. Wenn sie gekonnt hätte, dann hätte sie diese Worte hier selbst geschrieben, aber leider wurde ihr diese Fähigkeit direkt genommen. Und so ist es nun an mir, die Worte zu finden, die sie gerne gesprochen hätte! Sie war im Umgang mit dem Tod und Sterben ein direkter Mensch! Sie hatte nie Berührungsängste und fand es immer wichtig, offen mit dem Sterbenden umzugehen. So war es für uns ein wenig leichter, diesen schweren Gang mit ihr gemeinsam zu gehen. Für sie war Krankheit nie eine Strafe Gottes für schlechte Taten! Weder in diesem Leben, noch in einem anderen (falls man daran glaubt). Für sie hat Gott nun mal keinen Einfluss darauf, ob uns schlimme Dinge geschehen oder ob wir das Glück haben, ohne wesentliche Schicksalsschläge durchs Leben zu gehen. Der Glaube schützt einen nicht vor Erkrankungen und Leid – diese Erfahrung teilen wir nun mit vielen Menschen. Der Glaube hilft jedoch, diesen Weg gehen zu können. Diese Erfahrung würde ich gerne mit allen Menschen teilen, die in einer ähnlichen Situation sind.

Es gibt ein wunderschönes Gleichnis, das mir schon immer sehr gefallen hat. Ein Mann stirbt und blickt bei Gott auf sein Leben zurück. Dieses Leben sieht er als Spuren im Sand. Es sind stets zwei Fußspuren zu sehen, die seinigen, erst klein, dann immer größer werdend, und die von Gott, stets gleich groß und immer dicht an seiner Seite. Doch manchmal sieht er nur eine von den beiden! Er betrachtet sie und stellt fest, dass gerade in seinen schwersten Stunden die eine Fußspur fehlt. Er klagt Gott an! „Warum warst Du gerade in diesen Momenten nicht an meiner Seite, da wo ich Dich am meisten gebraucht hätte, warst Du nicht da!“ Doch Gott antwortet ihm: „Mein Sohn! Du hast recht! An diesen Momenten war ich nicht an Deiner Seite. In Deinen schwersten Stunden, da habe ich Dich getragen!“

Ich besaß nie diesen festen Glauben, den meine Schwester hatte! Dafür habe ich sie stets beneidet. Als wir jedoch erfahren haben, wie schwer sie erkrankt ist, da habe ich zu Gott gesprochen. Wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben aus tiefster Überzeugung. Ich habe mich an so viele Gespräche mit meiner Schwester erinnert, die mir stets sagte: „Um Heilung brauchst Du nicht zu bitten! Heilen kann Gott nicht! Du musst um Kraft bitten! Manchmal hat man das Glück auf Heilung, aber den Ausgang kann Gott nicht lenken. Aber er kann Dir Kraft schicken, diesen Weg zu gehen!“ Und so habe ich um Kraft gebeten. Und ich habe sie erhalten. Dieser Weg ist der schwerste in meinem Leben, er war es bisher und er wird auch weiterhin erst einmal beschwerlich bleiben! Auch diese Zeilen zu schreiben, kostet mich viel Kraft und viele Taschentücher. Aber ich habe mich und ich fühle mich auch jetzt oft getragen. Wir haben hier ein sehr dicht gespanntes Netz um uns herum! Es waren und sind immer Menschen an unserer Seite, die uns Steine aus dem Weg geräumt haben. Den eigenen Weg muss man selber gehen, das kann einem niemand abnehmen und das Ende ist nun mal nicht änderbar. Aber man kann sich helfen lassen, zulassen, dass Gott mit uns geht und uns Menschen beiseitestellt, die einen begleiten.

Ich bin für jeden Einzelnen dankbar! Ich bin dankbar, dass ich die räumliche, aber vor allem die seelische Enge zu meiner Schwester hatte, um ganz dicht bei ihr sein zu können. Hier sind viele Menschen ganz dicht bei uns gewesen und sind es immer noch. Während ich diese Worte schreibe, kämpft sie ihren letzten Kampf und wenn Sie diese Worte lesen, dann hat sie ihn beendet und ist weitergezogen. Es gibt Menschen, die sind gesegnet mit einem langen Leben, aber ihre Fußspuren sind flach und schnell verschwunden. Meine Schwester durfte nur kurz auf der Erde bleiben, aber ihre Fußspuren sind tief und in Stein gemeißelt. Sie werden fortbestehen, wir können sie uns betrachten, wann immer wir es wollen. Sie wird aus ihnen zu uns sprechen und die Kraft spenden, die wir zum Weiterleben benötigen.

Verena Kipp